Stiftung Chance für das kritisch kranke Kind

Als Robi starb

Um 15 Uhr läutet das Telefon. Robi ist angefahren worden, liegt auf dem Fussgängerstreifen. Er war auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten. Iris Sigel hat ihre Mutter zu Besuch, man erwartete Robi und seinen Zwillingsbruder Andri zum Zvieri. In fünf Minuten ist die Mutter auf der Unfallstelle. Die Ambulanz trifft ein. Als die Sanitäter Robi von der Seiten- in die Rückenlage bringen, setzt seine Atmung aus. Iris Sigel sieht ihren Sohn aus dem Mund bluten und weiss instinktiv, dass das nichts Gutes bedeutet. Der Helikopter der Rega landet und bringt Robi, inzwischen intubiert, und seine Mutter ins Kinderspital Zürich.

Es ist noch nicht vier Uhr, als Iris Sigel und ihr Mann Markus im Restaurant des Kinderspitals warten. Die Equipe der Intensivpflegestation IPS hat den kleinen Patienten bereits auf dem Dach des Kinderspitals in Empfang genommen. Alles ging schnell, professionell, jeder Griff sass. Sigels kennen das Kinderspital von früheren Besuchen, haben auch schon längere Zeit im Wartezimmer verbracht. Der konzentrierte Einsatz des IPS Teams zeigt ihnen, dass ihr Sohn in Lebensgefahr schwebt. Robi liegt im Schockraum, wo schwer- und mehrfachverletzte Patienten von einem Team aus IPS-, Notfallärzten und Pflegenden betreut werden. Die Eltern haben mitbekommen, dass Robi schwere Kopfverletzungen hat. Wenn er überlebte, wäre er wahrscheinlich behindert. Oberarzt Dr. Francis Ulmer informiert die Eltern. Er tritt mit ihnen in den Schockraum. Iris und Markus Sigel sehen entsetzt, wie fast ein Dutzend Ärzte und Pflegefachleute in höchster Anspannung am Behandlungstisch arbeiten. Der Oberarzt ist an ihrer Seite. Es sieht nicht gut aus. Dr. Ulmer kehrt zurück zum Patienten. Die Eltern warten im Vorraum. Im Laufe der folgenden Stunden berichtet Dr. Ulmer den Eltern mehrmals über den aktuellen Stand. Er muss mitteilen, dass sich die Situation nicht verbessert. Das Thema Organspende steht im Raum. Die Ärzte versuchen verzweifelt Robis Hirndruck zu senken. Es gelingt nicht. Robi wird für hirntot erklärt.

Kirsten Bordin-Vije vom Care-Team des Kinderspitals hat sich im Schockraum der Eltern angenommen, ist bei ihnen geblieben. Sie bespricht mit ihnen, die Geschwister kommen zu lassen. Lea, Norah und Andri sollen ihren Bruder nochmals sehen können. Iris Sigel ist nicht sicher, wie ihre Kinder den Anblick des sterbenden Bruders werden verarbeiten können. Die Eltern akzeptieren, dass Robis Organe anderen Kindern helfen könnten; in einem Moment, in dem man keinen klaren Gedanken fassen kann. Viel später fragt sich Iris Sigel, ob sie das Richtige getan hätte. Hätte, wäre, könnte ...  Sie glaubt ja, und doch gibt es Berichte von Menschen, die als hirntot galten und wieder aufgewacht sind. Robis innere Verletzungen sind zu schwer. Seine Organe versagen. Es ist kurz vor acht Uhr.

Fünf Stunden nach dem Unfall kommen seine Geschwister und Grosseltern zu spät. Die lebenserhaltenden Maschinen sind bereits abgestellt. Robis Leiche darf ab sofort nicht verändert werden. Vorschrift der Rechtsmedizin. Iris Sigel fällt es schwer, ihren Sohn nicht noch einmal in die Arme nehmen zu können. Dr. Ulmer setzt sich beim Staatsanwalt ein, dass möglichst viele Schläuche entfernt werden dürfen. Der Arzt fühlt mit den Eltern, fühlt sich ihnen verbunden, bewundert auch ihre Gefasstheit. Kirsten Bordin-Vije hat für Robi und seine Familie einen Raum vorbereit. Als seine Angehörigen ankommen, liegt er unter einer Decke. Eine Kerze brennt.

In den nächsten Stunden wird Kirsten Bordin-Vije für Familie Sigel zu einer grossen Stütze. Sie begleitet, ist in der Nähe, falls sie gebraucht wird, macht auf die nächsten Schritte aufmerksam, stellt die Psychologin Rosanna Abbruzzese vor, die in der kommenden Zeit ebenfalls eine wichtige Ansprechperson für die Familie wird. Einer Zeit, in der Iris Sigel ihre Bedürfnisse hinten anstellt. Weil nur wichtig ist, wie die Geschwister mit dem Tod ihres Bruders fertig werden. Jedes reagiert anders. Lea, 10 Jahre alt, spricht wenig über Robi. Sie hat kein Jahr vor dem Unfall eine Hirntumoroperation überstanden. Schon damals war die Mutter dankbar für die Hilfe und Unterstützung des Care-Teams im Kinderspital. Sie fühlte sich sehr umsorgt, nie allein gelassen, wurde auf alle unterstützenden Angebote im Kinderspital aufmerksam gemacht, konnte im Zimmer neben ihrer Tochter übernachten. Lea ging zwei Wochen nach der Operation schon wieder zur Schule. Norah, 9 Jahre, stellt Fragen zum Unfall, über den Tod. Sie will nach zwei Tagen wieder in die Schule, sucht Ablenkung. Andri, 7 Jahre, lebt, typisch für sein Alter, im Hier und Jetzt. Robis Bett in seinem Zimmer brauche es jetzt nicht mehr. Iris Sigel wird in den kommenden Wochen lernen, dass jedes ihrer Kinder einen eigenen Weg finden muss, mit diesem Tod umzugehen. Sie und ihr Mann ebenfalls.

Am Tag danach kümmern sich Polizei und Schulleitung rührend um die Familie. Nachbarn blocken neugierige Journalisten ab. Kirsten Bordin-Vije vom Care-Team ist in Kontakt. Sie spricht an, dass es verschiedene Möglichkeiten des Abschieds gibt und kein richtig oder falsch. Allein die Gefühle und Bedürfnisse der Eltern und Geschwister sind entscheidend. Die Familie spürt, dass sie noch kein Grab will. Sie möchte ihre Trauer um Robi nicht an einem öffentlichen Ort wie einem Friedhof zeigen. So wird Robi kremiert und kommt in einer kleinen Holzurne nach Hause. Die Familie lässt sich Zeit mit einem Grab. Vielleicht werden sie für Robi einen Baum pflanzen. Die Abdankung muss vorbereitet werden. Als Iris Sigel erfährt, dass Robi singend auf den Fussgängerstreifen getreten ist, ruft sie Andrew Bond an. Robi war ein grosser Fan. Andrew Bond kommt zur Abschiedsmesse und singt.

Zwei Monate nach dem Unfall meldet sich Dr. Francis Ulmer. Er bittet Robis Eltern ins Kinderspital. Gemeinsam werden die Ereignisse des Schicksalstages nochmals besprochen. Die Eltern sind dankbar, dass das Ärzte- und das Care-Team so gut auf die Extremsituation vorbereitet waren und ihnen in der ganzen Hektik Ruhe vermittelt hat. Wie damals nach Robis Tod, bedanken sich die Eltern bei allen, die ums Leben ihres Sohnes gekämpft haben. Das Bild der Ärzte und Pflegenden, die nach verlorenem Kampf enttäuscht, ausgelaugt und selbst in Tränen im Schockraum standen, haben sie nicht vergessen.



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